FV-Dosto: SBB setzt auf Zuverlässigkeit und Fahrkomfort [aktualisiert]

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 1. Juli 2022 veröffentlicht.

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Zwei FV-Dosto-Züge der SBB am 9. Dezember 2018, im planmässigen Einsatz, in der Halle des HB Zürich. / Quelle: Sandro Hartmeier

Die SBB verzichtet beim Fernverkehr-Doppelstockzug (FV-Dosto) auf das schnelle Fahren in Kurven auf Basis der sogenannten Wankkompensation; sie beantragt beim Bundesamt für Verkehr eine Anpassung des Angebotskonzepts 2035. Testfahrten haben gezeigt: Diese Anwendung führt zu Komforteinbussen für die Reisenden. Als Technik für einen Nischenmarkt und hochkomplexe Eigenanfertigung ist sie vergleichsweise fehleranfällig, aufwändiger im Unterhalt und damit nicht zukunftsfähig. Der Entscheid eröffnet die Möglichkeit, den Fahrkomfort des FV-Dosto weiter zu verbessern. Zudem steigen Flexibilität und Zuverlässigkeit im Bahnbetrieb. Die Fahrzeitverkürzungen zwischen Bern und Lausanne sowie zwischen Winterthur und St. Margrethen verfolgt die SBB weiter.

Die SBB hat entschieden, auf das schnelle Fahren in Kurven – das sogenannte bogenschnelle Fahren – auf Basis der im FV-Dosto genutzten Wankkompensation zu verzichten. Die SBB hatte deren Einsatz ab 2027 vorgesehen, um während bevorstehenden Bauarbeiten mehr Reserve im Fahrplan zu haben. Anschliessend sollte damit ab 2036 in einem ersten Schritt zwischen Lausanne und Bern sowie in einem zweiten Schritt zwischen Winterthur und St. Margrethen die Reisezeit ohne teure Infrastrukturausbauten verkürzt werden.

Den Entscheid, dereinst auf das bogenschnelle Fahren zu setzen, hatte die SBB basierend auf dem damaligen Stand des technischen Wissens sowie aufgrund vielversprechender Studien und erfolgreicher Testfahrten mit umgebauten IC2000 gefällt. Die Wankkompensation galt als Zukunftstechnik, um mit einem Doppelstockzug gleichzeitig die Fahrzeiten zu verkürzen und auf die steigende Nachfrage zu reagieren.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich jedoch gezeigt: Techniken für Nischenmärkte und hoch komplexe Eigenanfertigungen wie die Wankkompensation für das bogenschnelle Fahren sind zwar technisch umsetzbar. Sie sind allerdings vergleichsweise fehleranfällig, aufwändiger im Unterhalt und damit nicht zukunftsfähig. Bei Testfahrten mit dem FV-Dosto wurde ausserdem deutlich, dass der Fahrkomfort beim bogenschnellen Fahren weder für die Kundinnen und Kunden noch für die SBB zufriedenstellend wäre.

Deshalb setzt die SBB in ihrer aktualisierten Flottenstrategie auf bewährte Züge und Techniken. Gemäss dieser soll der FV-Dosto nach seinem Lebensende Mitte der 2040er-Jahre durch Standard-Rollmaterial ersetzt werden. Daher wäre das bogenschnelle Fahren mit Fahrzeitgewinn nur für rund zehn Jahre möglich; entsprechende Investitionen in die Bahninfrastruktur für bogenschnelles Fahren lohnen sich nicht.

Mehr Fahrkomfort sowie grössere Zuverlässigkeit im Bahnbetrieb

Die SBB will sich künftig auf den Fahrkomfort konzentrieren. Dazu sagt SBB CEO Vincent Ducrot:

«Der Entscheid eröffnet die Möglichkeit, den Fahrkomfort des FV-Dosto für unsere Kundinnen und Kunden weiter zu verbessern.»

Die SBB hat den Hersteller Alstom beauftragt, zu prüfen, wie die Laufruhe des Zuges weiterentwickelt werden kann, und eine entsprechende Machbarkeitsstudie ausgelöst.

«Der Verzicht ermöglicht eine grössere Flexibilität und Zuverlässigkeit im Bahnbetrieb»

, erklärt Konzernleitungsmitglied Linus Looser, Leiter Produktion Personenverkehr.

«Fällt ein FV-Dosto aus, kann ein anderer Zugstyp eingesetzt werden, ohne dass sich die Reisezeit dadurch verlängert.»

Langfristige Fahrzeitverkürzungen bleiben ein Ziel

Im Rahmen von planmässigen Fahrbahnerneuerungen hat die SBB bisher zwischen Bern und Lausanne 32 Millionen Franken für das schnelle Fahren in Kurven investiert. Die SBB wird aufgrund des Entscheids und in Absprache mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) auf weitere Investitionen verzichten, die nötig gewesen wären, um die Infrastruktur für das bogenschnelle Fahren zu ertüchtigen.

Die Fahrzeitverkürzungen um fünf Minuten zwischen Lausanne und Bern ab 2036 und um zwei Minuten zwischen Winterthur und St. Margrethen zu einem späteren Zeitpunkt können mit dem Verzicht auf das schnelle Fahren in Kurven nicht erreicht werden. Die SBB verfolgt das Ziel von Fahrzeitverkürzungen und Fahrplanstabilität jedoch dezidiert weiter. Sie beantragt dafür beim Bundesamt für Verkehr eine Anpassung des Angebotskonzepts 2035, welche den Verzicht auf das bogenschnelle Fahren berücksichtigt. Für die Strecke Lausanne–Bern steht für die SBB eine Neubaustrecke im Vordergrund. Dafür ist eine vom Bund beauftragte Studie bis voraussichtlich Herbst 2022 in Erarbeitung. Für die Strecke Winterthur–St. Margrethen strebt die SBB das gleiche Vorgehen und die Beauftragung einer Studie an.

Flottenstrategie: Fahrzeuge mit bewährten Techniken
Die Flottenstrategie der SBB sieht vor, den Fahrzeugpark des Personenverkehrs von heute rund 20 schrittweise auf sechs bis sieben Fahrzeugtypen zu reduzieren, bei denen bewährte Techniken zum Einsatz kommen. Damit werden die Komplexität und die Kosten reduziert. Die Transportkapazität wird weiter erhöht, indem auf stark frequentierten Strecken einstöckiges durch doppelstöckiges Rollmaterial ersetzt wird. Hoher Kundennutzen und konsequente Serviceorientierung werden auch bei künftigen Fahrzeugen im Vordergrund stehen.
Wankkompensation: Technik mit drei Funktionen
Die Wankkompensation hat drei Funktionen: Sie ermöglicht das bogenschnelle Fahren mit einem Doppelstockzug, dient dem Fahrkomfort sowie der Seitenwindkontrolle. Die Seitenwindkontrolle ist wie geplant im Einsatz. Beim Fahrkomfort will die SBB gemeinsam mit dem Hersteller Alstom weitere Verbesserungen erzielen. Sie hat sich Ende Juni 2022 entschieden, auf das bogenschnelle Fahren zu verzichten, da sie diese Anwendung als vergleichsweise fehleranfällig, aufwändiger im Unterhalt und damit als nicht zukunftsträchtig erachtet.

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9 Kommentare

  1. Die Beschaffung dieser Züge ist längst als Skandal der Sonderklasse in die 175-jährige Eisenbahngeschichte der Schweiz eingegangen.

  2. wegen 2 bzw. 5 – zwei bzw. fünf! – Minütchen – Neubaustrecken zu planen. Es ist doch zu hoffen, dass diese Absicht durch heftigste und effizienteste Einsprache zum Scheitern verdammt wird.

  3. @R. Penzinger
    In der CH heisst es ‘Extra-….’, ‘Sonder-…’ gibt’s nicht. Dafür eher ‘par excellence’.
    Darum heisst es auch z.B. offiziell ‘Extrazug’, Zug-Kategorie EXT.
    Und in der 175-jährigen Bahngeschichte hat’s so einige technische ‘Skandale’ par excellence gegeben. Ich erinnere an die Ae 4/6, RBe 4/4, an die ‘Chiquita’ RABDe 8/16, an die VBZ-Be 5/6 ‘Cobra’ (auch Bombardier) etc. etc..
    Seinerzeit hatte man halt in Kooperation (!) mit den einheimischen Lieferanten nach Lösungen gesucht, um das betroffene Material mit durchaus erheblichen Kosten foch noch einigermassen zum Fahren zu bringen (Bsp.: RBe 4/4 -> x-mal umgebaut, aber der Kasten war zu schwach und tendierte bis zum Schluss zur ‘Bananenform’).

    @P. Mumenthaler
    Retour zum Prodizenten?
    Dürfte rechtlich nicht ganz einfach dein, weil dieser inzwischen nicht mehr existiert…
    Und Alstom dürfte darauf plädieren, dass der Twindexx nicht seine Konstruktion gewesen sei.
    Vielleicht lässt sich die vertragliche Schlechterfüllung (Bombardier) mit den Kosten der vorgesehenen Komfortverbesserung irgendwie verrechnen – wenigstens graduell.
    Sonst könnte dies noch ein interessanter Zivilprozess werden…

  4. Welch Peinlichkeit, unsere wahren Ingineure von früher würden sich im Grabe umdrehen! Züge zurück zum Hersteller aber subito!

  5. Ja sicher gibt es da rechtliche Prozesse wenn die SBB die Züge retour gibt. Aber Alstom übernahm die Bombardier mit den Verträgen die sie mit den unternehmen abgeschlossen haben. Und die ÖBB gab ihre Bomardier Züge auch zurück

  6. Von Anfang an der grösste Fehler war, einen FLUGZEUGBAUER mit dem Triebzugbau zu beauftragen! Mit entwickelden Ingenieuren, die NOCH NIE einen Fuss in einen Bahnwagen gesetzt haben – nur fliegen und/oder Auto fahren. Danke für Obscht – der Steuerzahler bezahlt die ganze Misere, und als älterer GA-Benützer kann ich nicht stehend durch einen fahrenden Dosto bewegen, das ist lebensgefährlich…

  7. Weltweit hat sich kein anderes Bahnunternehmen in das Abenteuer gestürzt, in einen Dosto irgendeine Art von Neigetechnik einzubauen. Mit gutem Grund.

  8. Natürlich wäre Alstom verantwortlich. Schliesslich sind sie der Rechtsnachfolger der vereinnahmten Bombardier Transportation. (Von Fusion kann da keiner mehr sprechen – von BombTranz wird ausser den (elektrischen!) TRAXX und evtl. Trams nichts übrigbleiben. Geschieht dem Stümperladen aber auch recht!)
    Allerdings wäre das alles nicht so einfach. Jedenfalls schwieriger als allenfalls Alstom (als Rechtsnachfolger 😉 noch eins reinzuwürgen für die de-facto Schlechtfunktion der WAKO. Man hört ja schon ohne schnelleres Fahren im Bogen nicht viel Gutes zum Fahrkomfort. Ob bei den ganzen Pönalen und Materialrabatten da noch Luft ist für die ursprünglich mal vereinbarten 100 Mio. CHF retour bei WAKO=Schrott? …

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