Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) hat am 2. Juni 2025 im Rahmen einer Pressekonferenz ihren abschliessenden Untersuchungsbericht zum Zugunfall vorgelegt, der sich am 10.08.2023 im Gotthard-Basistunnel (GBT) ereignete. Die Untersuchung der SUST stellt fest, dass ein Radscheibenbruch in Wagen 11 die Entgleisung dieses Wagens und die weiterer Wagen des Zugs verursachte und zur Zerstörung der Weichen an der Spurwechselstelle Faido führte. Der Schlussbericht sieht keinerlei Versäumnisse beim Wagenhalter TRANSWAGGON: TRANSWAGGON hatte all seine Wartungs- und Instandhaltungspflichten vollständig erfüllt. Metallurgische Untersuchungen legen nahe, dass der Radscheibenbruch die Folge einer thermischen Überbelastung der Radlauffläche war, die wahrscheinlich von anliegenden oder nicht vollständig gelösten Bremsen verursacht wurde. Dies führte zu Ermüdungsrissen in der Radscheibe, die sich nach und nach so weit ausweiteten, bis die Radscheibe brach. Welche Massnahmen geeignet sind, solche Unfälle in Zukunft zu vermeiden, wird der europäische Schienengüterverkehrssektor im Anschluss an die Empfehlungen aus diesem SUST-Schlussbericht und an die Empfehlungen des Abschlussberichts «Unfall Gotthard-Basistunnel – Radbruch» des Joint Network Secretariat (JNS) der European Union Agency for Railways (ERA) jetzt detailliert zu diskutieren haben.
SUST bestätigt: Radbruch löste den Unfall im GBT aus
Am 10. August 2023 entgleisten mehrere Wagen eines Güterzugs bei der Fahrt durch den Gotthard-Basistunnel und beschädigten die Weströhre des GBT. Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) hat diesen Unfall eingehend untersucht und jetzt ihren Schlussbericht dazu vorgelegt. Darin bestätigt die SUST die Feststellung aus ihrem Zwischenbericht, den sie bereits am 28.09.2023 veröffentlicht hatte: Ein Radbruch am Wagen 11 des Zugs führte zur Entgleisung dieses Wagens und im Anschluss von nachfolgenden Wagen des Zugs. Der Radbruch führte auch zur Beschädigung der beiden Weichen an der Spurwechselstelle Faido, woraufhin Wagen 14 auf das Verbindungsgleis zur Oströhre abgelenkt wurde und das Spurwechseltor zerstörte.
Der Wagen von TRANSWAGGON war ordnungsgemäss gewartet
TRANSWAGGON hat diesen Wagen 11, einen kurzgekuppelten Schiebewandwagen vom Typ Laaiis mit der Wagennummer 24 74 422 0 466-2, als Wagenhalter zur Verfügung gestellt. Im europäischen Schienengüterverkehr obliegt es den Wagenhaltern, für eine ordnungsgemässe Instandhaltung und Wartung der von ihnen vermieteten Güterwagen zu sorgen. Der SUST-Schlussbericht hält nun explizit fest, dass im Falle des verunfallten Wagens 11 der Wagenhalter seiner Verantwortung in vollem Umfang nachgekommen ist. Im Abschnitt «4.2.2 Wagen 11 (Wagen 466-2)» erklärt die SUST unter Punkt «4.2.2.2 Feststellungen» ausdrücklich: «Der Radscheibenbruch ist nicht auf einen Instandhaltungsmangel der Radsätze des Wagens 466-2 zurückzuführen.»
Funktionierendes ECM-System bei TRANSWAGGON
Bereits zuvor erläutert der Schlussbericht die Relevanz der für die Instandhaltung zuständigen Stelle eines Wagenhalters (engl.: Entity in Charge of Maintenance, ECM). Die TRANSWAGGON Gruppe übernimmt die Aufgaben der ECM selbst: Sie koordiniert und managt die Instandhaltungsaufgaben, wobei die technische Erbringung der Instandhaltung qualifizierte Werkstätten übernehmen, die bei TRANSWAGGON unter Vertrag stehen. Die jährliche Zertifizierung der dahinterliegenden Prozesse führt eine externe Zertifizierungsstelle durch. Auch im Zusammenhang mit dem ECM-System erklärt die SUST in Absatz «4.1.2 Für die Instandhaltung zuständige Stellen»: «Da dieses Ereignis nicht auf einen Mangel bei der Durchführung der Instandhaltung der Radsätze zurückzuführen ist, verzichtet die SUST auf weitere Abklärungen betreffend das ECM-System.»
Festsitzende Bremsen haben zu Ermüdungsrissen geführt
Zu den Gründen für den Radscheibenbruch und die folgende Entgleisung stellt der SUST-Schlussbericht in Absatz «1.3 Ursachen» fest: «Der Radscheibenbruch ist die Folge einer thermischen Überbelastung der Lauffläche, mit Entstehung senkrechter Ermüdungsrisse, als Folge zu hoher Zugeigenspannungen an der Radlauffläche, die sich bis zum Steg weiterentwickelten und anschliessend zum Bruch der Radscheibe führten.» Als Auslöser dieser thermischen Überbelastung der Lauffläche sieht die SUST – auch auf Basis metallurgischer Untersuchungen – eine Überhitzung aufgrund festsitzender Bremsen. So heisst es im SUST-Schlussbericht unter anderem in Abschnitt «5.1.4 Rissinitiierung – Ermüdungsrisse – Radscheibenbruch»: «Thermische Überbeanspruchungen an der Radoberfläche entstehen während der Fahrt, wenn die Bremssohlen am Rad anliegen, dies als Folge einer Festbremse oder wenn sich die Bremsen nicht ganz gelöst haben.» Besonderes Augenmerk legt der SUST-Schlussbericht dabei auf Räder, die mit modernen, sogenannten Flüsterbremsen ausgerüstet sind, wie die Radsätze vom Typ BA 390 an Wagen 11. Dessen leise Bremsen waren mit LL-Bremssohlen (Low noise, Low friction – geringer Lärm, geringe Reibung) ausgestattet, die aus Verbundstoff-Material gefertigt sind. Eine weitere Variante der Flüsterbremsen aus Verbundstoff sind sogenannte K-(Komposit)-Bremssohlen. Solche leisen Verbundstoff-Bremssohlen haben wegen ihrer geringeren Lärmentwicklung die früher üblichen Bremssohlen aus Grauguss (graues, graphithaltiges Gusseisen) in Europa nahezu vollständig abgelöst. In der Schweiz gelten schon seit 2020/2021 Lärmemissions-Grenzwerte, die es faktisch verbieten, Güterwagen mit Grauguss-Bremssohlen in der Schweiz überhaupt noch zu verwenden. Deutschland und Österreich folgten 2021 und inzwischen sind im grössten Teil der Europäischen Union die alten Grauguss-Bremssohlen wegen ihrer Lärmentwicklung faktisch verboten.
Der Sektor hat die Berichte der SUST und der JNS Task Force eingehend zu diskutieren
Der abschliessende Untersuchungsbericht der SUST über den Unfall im Gotthard-Basistunnel sieht beim Wagenhalter also keinerlei Versäumnisse: TRANSWAGGON und sein ECM sind allen Wartungs- und Instandhaltungspflichten ordnungsgemäss nachgekommen. Dennoch betont auch TRANSWAGGON die Notwendigkeit, im Anschluss an den SUST-Schlussbericht im europäischen Güterbahnverkehrssektor eingehend zu diskutieren, welche Massnahmen sinnvoll sind, um Unfälle wie im GBT in Zukunft zu vermeiden. Die SUST spricht in ihrem Schlussbericht bereits einige Empfehlungen aus. Auch das europäische Joint Network Secretariat (JNS), das Unfalluntersuchungsorgan der European Union Agency for Railways (ERA), hatte bereits am 11. Juli 2024 einen Untersuchungsbericht zum GBT-Unfall vorgelegt, der ebenfalls Massnahmen zur Risikobeherrschung formuliert.
Massnahmenvorschläge der JNS Task Force
Die JNS Task Force «Accident Gotthard base tunnel – broken wheels» (Unfall Gotthard-Basistunnel – Radbruch) kommt in ihrem Abschlussbericht unter anderem zu der Schlussfolgerung, dass zukünftige Massnahmen sich nicht nur auf den beim GBT-Unfall gebrochenen Radsatztyp BA 390 erstrecken müssen, sondern auch auf die weiteren vergleichbaren Radsatztypen BA 004, Db004-sa, Ri 025, R32 sowie BA 304. Zu den Massnahmen zur Risikobeherrschung zählen beispielsweise höhere Mindestraddurchmesser wie auch intensivere Sichtprüfungen auf Rissbildungen, Farbabbrand und Verfärbungen sowie Klangproben (Hammertest) am Rad. Die JNS Task Force sieht bei den intensiveren Sichtprüfungen ebenso die mit der Instandhaltung betrauten ECM wie auch die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die die Wagen verwenden, in der Pflicht.
Massnahmenvorschläge der SUST
Der Schlussbericht der SUST zitiert die Massnahmen zur Risikobeherrschung, die die JNS Task Force formuliert hat, geht aber über die Ausweitung der Massnahmen auf weitere Radsatztypen noch hinaus. Unter «6.1 Radsätze mit LL-Bremssohlen, Mindestdurchmesser im Betrieb» spricht die SUST die Empfehlung an die europäische ERA aus, die von der JNS Task Force formulierten Massnahmen zur Risikobegrenzung im Betrieb auf alle Radsatztypen zu erweitern, die mit Verbundstoffbremssohlen gebremst werden. Ebenso empfiehlt die SUST der ERA, die Instandhaltungsvorgaben für LL-gebremste Radsätze betreffend Intervall und Methodik anzupassen sowie eine Studie über den Einfluss von Verbundstoffbremssohlen auf die thermische Beanspruchung der Räder in Auftrag zu geben.
Eine hydraulische Weiche als Faktor beim Unfallgeschehen
Eine weitere Sicherheitsempfehlung des SUST-Schlussberichts bezieht sich auf Hydrostarweichen mit hydraulischen Antrieben. Der Hintergrund: Die nach dem Radbruch schräg unter dem Wagen 11 hängende Achse hat im GBT beide Weichen an der Mulifunktionsstelle Faido zerstört. An der zweiten Weiche (mit der Nummer W386) wurden der kurzgekuppelte Wagen 14 in der Mitte getrennt und sein zweiter Teil sowie folgende Wagen auf das Verbindungsgleis zur Oströhre abgelenkt. So konnte der zweite Teil von Wagen 14 in das Spurwechseltor in der Verbindungsröhre einschlagen und es zerstören. Der SUST-Schlussbericht erklärt die Trennung und Ablenkung von Wagen 14 an der Weiche W386 mit den Konstruktionsmerkmalen der hydraulischen Hydrostarweiche: Weil bei ihr – anders als bei herkömmlichen Weichen mit Klinkenverschluss – die Stell- und Verriegelungselemente oberhalb der Schwellenkante liegen, konnte die herabhängende Achse diese Elemente zerstören, sodass kein bestimmter Fahrweg mehr bestand und die Spurführung verloren ging. Entsprechend bezeichnet die SUST in Abschnitt «1.3 Ursachen» die Hydrostarweiche als einen Faktor, der «zum Unfall bzw. zum Schadenausmass» beitrug. Deswegen empfiehlt die SUST dem Bundesamt für Verkehr (BAV), jene Infrastrukturbetreiberinnen, die in ihrem Netz Weichen mit oberhalb der Schwellenoberkante liegenden Verschlussvorrichtungen nutzen, dazu aufzufordern, das Risiko eines Ausfalls zu bewerten und zu reduzieren.
Geeignete Sicherheitsmassnahmen im Verantwortungsdreieck umsetzen
Die von der JNS Task Force und der SUST in ihren jeweiligen Schlussberichten formulierten Massnahmen richten sich an alle drei Akteure aus dem sogenannten Verantwortungsdreieck im europäischen Schienengüterverkehr: an die Infrastrukturbetreiber (IB), an die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) sowie an die Wagenhalter. Dies ist schon deswegen sinnvoll, weil es nachhaltige Sicherheit nur geben kann, wenn alle drei Akteure im Schienengüterverkehr – IB, EVU und Halter – den geltenden Regeln gemäss zusammenarbeiten. Nur sie können in ihrem jeweiligen Verantwortungs- und Einflussbereich für die gebotene Sicherheit sorgen. Dass dabei konsequent international abgestimmte Regeln zur Anwendung kommen, ist umso wichtiger, als die Transportleistungen in Europa von zahlreichen unterschiedlichen Unternehmen aus verschiedensten Ländern erbracht werden. Es wird im europäischen Schienengüterverkehrssektor jetzt eine breit aufgestellte Diskussion zu führen sein, welche weiteren Konsequenzen aus den Untersuchungen von SUST und JNS Task Force zu ziehen sind, um Unfälle wie im GBT in Zukunft zu vermeiden.
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